Ich hab soviel in dich investiert 100. GEBURTSTAG ERICH FROMMS Zeitgemäße Anmerkungen zu seinem Klassiker »Die Kunst des Liebens«
Erich Fromm - Psychoanalytiker, Autor vieler (im besten Sinne) populärwissenschaftlicher Werke und einer der bedeutendsten Vertreter der Frankfurter Schule - war nicht nur mit dem geistigen Rüstzeug der Kritischen Theorie und der Freudschen Psychoanalyse ausgestattet (deren zeitbedingte Verengungen und soziologisch blinde Flecken er aufbrach, was ihm seitens der Psychoanalytischen Gesellschaft den Vorwurf des »Revisionismus« eintrug); er stand auch dem »historischen Materialismus« näher als manch anderer Vertreter der Frankfurter Schule. Zudem war er in der philosophischen Tradition nicht nur des Westens, sondern auch des Ostens außerordentlich bewandert. Seine sozialpsychologischen und philosophischen Werke (Die Furcht vor der Freiheit, Haben oder Sein, Die Kunst des Liebens, Anatomie der menschlichen Destruktivität u.a.) gehörten denn auch - neben den Werken Marcuses, Adornos und Horkheimers - zu den prägenden Bildungserlebnissen und geistigen Initialzündungen meiner, der 68er-Generation.
Hätte Erich Fromm seinen Klassiker Die Kunst des Liebens heute geschrieben, dann - so scheint mir allerdings - wäre seine Diagnose über den »Verfall der Liebe in der zeit-genössischen westlichen Gesellschaft« wohl noch um einiges skeptischer ausgefallen als 1957, dem Erscheinungsjahr seines Bestsellers. Schon damals registrierte er scharfsinnig, dass »die menschlichen Liebesbeziehungen den gleichen Grundzügen folgen, die den Waren- und den Arbeitsmarkt beherrschen ... Unsere ganze Kultur basiert auf der Kauflust, auf der Vorstellung eines für beide Seiten günstigen Austausches. ›Was du mir gibst, das gebe ich dir!‹, lautet die vorherrschende Maxime sowohl für Waren als auch für Liebe ... Der moderne Mensch hat sich in eine Ware verwandelt. Er erlebt seine Lebenskraft als eine Investition, mit der er - entsprechend seiner Stellung und seiner Position auf dem Persönlichkeitsmarkt - einen möglichst hohen Gewinn erzielen will.« Diese Feststellung dürfte heute in noch viel radikalerem Sinne zutreffen als damals; gibt es doch kaum noch eine gesellschaftliche Sphäre, die nicht den Marktgesetzen unterworfen wurde. Selbst ehemals gemeinnützige und non-profit-Organisationen wie Krankenhäuser, Altenheime und (demnächst) auch Gefängnisse müssen mit Gewinn arbeiten. Wo alles privatisiert und dem Verwertungsprinzip unterworfen wird, muss man sich freilich nicht darüber wundern, dass die ökonomischen Kategorien sich auch des letzten Refugiums, der Intim- und Privatsphäre der Personen, immer mehr bemächtigt haben.
Hört man heutige Paare über ihre »Beziehungen« streiten, hat man oftmals den Eindruck, es sei eine neue Art von informeller Börse entstanden, an der mit emotionalen Kurswerten gehandelt wird. Die Krise, der crash, hat meist mit der Enttäuschung zu tun, dass das eingesetzte Gefühls-Kapital nicht genügend Surplus abgeworfen hat. Dann fallen Sätze wie: »Ich habe soviel in dich investiert. Und was habe ich zurückbekommen?« Oder: »Ich bin es leid, immer nur der (die) Gebende zu sein. Ich möchte auch einmal etwas von dir profitieren!«
Die meisten Menschen glauben denn auch, dass das Lieben selbst sehr einfach sei, dass es jedoch sehr schwer wäre, das »richtige Objekt« - gemeint ist das wertäquivalente Objekt - zum Lieben zu finden. Im Verständnis Erich Fromms dagegen hieß lieben noch »sich selbst zu geben, ohne eine ›Sicherheit‹ der Gegenliebe zu haben, aber im Glauben, daß die eigene Liebe in dem geliebten Menschen Liebe hervorrufen wird ... Die Grundlage dieses Glaubens ist unsere eigene Produktivität, die Erfahrung des Werdens, Wachsens und Lebendigseins.«
Die Betonung liegt hier auf dem produktiven, nicht auf dem konsumptiven Aspekt; auf der Entäußerung und Verwirklichung des eigenen Mensch-Seins, nicht auf dem Haben und Sich-Einverleiben; auf dem Vertrauen in die Fülle menschlicher Möglichkeiten, welche die Liebe in einem selbst wie im anderen freisetzt - und nicht auf dem Prinzip des (Äquivalenten)Tausches und der ›lohnenden Investition‹ wie in der komfortabel eingerichteten modernen Zweierbeziehung. Hier geht man lässig und freundlich miteinander um, ohne Übertreibungen, ohne Flamme. Die Einstellung zu Beruf und Pflichten ist, soweit eben möglich, lustbetont. Die Partner sind Körperfreunde, doch weiß man meist wenig voneinander, nichts Tieferes, und oft genug bleibt man sich fremd. Die relative Prüderie der Elterngeneration, an der sich die 68er-Revolte einst mit entzündete, ist längst einer neuen Form der Prüderie gewichen: der Risikoverminderung der Gefühle im freien Spiel der Partnerwahl. Die - nach Fromm - eigentliche und existentielle Erfahrung der Liebe, nämlich »die eigene Getrenntheit zu überwinden«, ist zum sexuellen Vergnügen verflacht. Die Liebe gilt heute allgemein als Kind des sexuellen Vergnügens; in ihr hat man endlich den Hafen gefunden: Man schließt ein zweiseitiges Bündnis gegen die Welt, und dieser Egoismus zu zweit wird dann für Liebe und Vertrautheit gehalten. Liebe als gegenseitige sexuelle Befriedigung sowie Liebe als »Teamwork« und als Schutzhafen vor der Einsamkeit - dies waren für Fromm die beiden »normalen« Formen ihres Verfalls in der modernen westlichen Gesellschaft.
Im Schein-Paradies der totalen Erlaubnis findet jedes Begehren sofort seine (Ersatz-) Befriedigung, noch bevor es sich zur Leidenschaft alten Stiles auswachsen könnte. Wo eine Versagung, der Liebeskummer oder gar die Einsamkeit drohen, bieten sich Trost und Tröster wie von selber an. Tausenderlei Surrogate und Ablenkungen stehen heute bereit, um etwaigen - für den Partner oder die Sozietät - gefährlichen Ausbrüchen von Liebesleidenschaft vorzubeugen und die erotischen Energien im sexuellen Tauschverkehr zu zersplittern. Dass trotz »sexueller Revolution« und nahezu vollständiger Enttabuisierung und Liberalisierung - nicht nur auf dem Güter- und Ar- beits- markt, sondern auch auf dem modernen Persönlichkeitsmarkt - die psychischen Potenzstörungen bei Männern und Frauen signifikant zugenommen haben (wofür Stress und die zunehmende Verunsicherung der Arbeits- und Lebensverhältnisse mit ursächlich sein dürften), desgleichen die zunehmende Scheidungsraten und der hohe Anteil der Singles, die in manchen deutschen Großstädten schon fast ein Drittel der Haushalte ausmachen - all dies sind wohl Indizien für den fortschreitenden »Verfall der Liebe in der modernen westlichen Gesellschaft«.
Für Erich Fromm war Liebe, die diesen Namen verdient, noch eine Kraft, die über den bloßen Egoismus zu zweit hinaus strebt und sich in ihrer erweiterten Form auch als Nächstenliebe, als Mitgefühl, Empathie und Verantwortung für den Mitmenschen und das Gemeinwesen, kurz: als aktives Sich-Einsetzen und Solidarität zu bewähren hat. So etwas klingt altmodisch - und fast wieder revolutionär in einer Zeit, da alle Soziologen den rasanten Schwund des Gemeinsinns beklagen. (Nur selten geben sie indes zu, dass dieser Schwund die schier zwangsläufige Folge der neoliberalen Doktrin und Wirtschaftspraxis, ihrer Deregulierungs- und Privatisierungsexzesse ist, die die sozialen Lebensrisiken - vom Arbeitsplatzverlust bis zur Krankheits- und Altersvorsorge - mehr und mehr dem Einzelnen aufbürden.)
Zu welchen Schlüssen bezüglich des Verfallsgrades der Liebe in der heutigen Gesellschaft wäre Fromm wohl gekommen, wäre er noch Zeuge jener Total-Vermarktung der Sexualität samt ihrer Partialtriebe, des Voyeurismus und Exhibitionismus geworden, wie sie erst der deregulierte, völlig enthemmte Kapitalismus und die elektronische Revolution der achtziger und neunziger Jahre durchgesetzt haben? Mit www. sex.de rund um den Globus und rund um die Uhr, mit »Peep« und sog. Erotik-Talkshows auf allen Kanälen, in denen Groß und Klein, Alt und Jung über ihre sexuellen Vorlieben, über Analverkehr und SM- Praktiken locker vom Hocker daherreden, als handle es sich um die »normalsten« Sachen der Welt - von den neuen Dienstleistungen wie Telefonsex, Swingerclubs und Seitensprung-Service gar nicht zu reden? Wäre der Autor der Kunst des Liebens den neuen Jugendverderbern, sprich: TV- Moderatoren und Moderatorinnen vom Schlage Verena Feldbuschs, Arabella Kiesbauers und Harald Schmidts, diesen zynischen Biedermännern- und -frauen einer pervertierten sexuellen Aufklärung, mit Begriffen wie »Verfall«, »Verwilderung« oder »Dekadenz« gekommen, sie hätten ihn wohl coram publico ausgelacht und zum hoffnungslos altmodischen, noch dazu »verklemmten« alten Herren gestempelt.
Der - im Interesse des reibungslosen Kapitalverkehrs und der Profitmaximierung - flexibilisierte und angepasste Mensch unserer High-Tech-Zivilisation scheint sich tatsächlich immer mehr dem Bilde zu nähern, das Huxley in seinem Buch Schöne Neue Welt beschrieben hat: gut genährt, gut gekleidet, sexuell mehr oder weniger befriedigt, aber ohne Selbst, nur im oberflächlichsten Kontakt mit seinen Mitmenschen, geleitet allein von Slogans wie »Schiebe ein Vergnügen nie auf morgen, wenn du es heute haben kannst!« In der allgegenwärtigen Fun-Culture ist Vergnügen zum Synonym für Glück und Sex, zum Surrogat für Liebe geworden. Schon 1957 schrieb Fromm: »Vergnügen liegt in der Befriedigung des Konsumierens und ›Einverleibens‹: von Waren, Bildern, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Büchern und Filmen. Alles wird konsumiert, wird geschluckt. Die Welt ist nur für unseren Hunger da, ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust; wir sind Säuglinge, die ewig Erwartungsvollen, die ewig Hoffnungsvollen - und die ewig Enttäuschten.« Vorreiter dieses gesellschaftlich akzeptierten Suchtverhaltens, das selbstredend als Motor der Konjunktur fungiert, sind die USA, wo sich die privaten Haushalte lieber bis in die nächsten Generationen hinein verschulden, als auf einen einzigen Kaufwunsch zu verzichten. Die frenetische Kaufsucht indes empfindet kaum ein Bürger von gods own country als krank oder pathologisch, umso mehr das Zigarettenrauchen auf öffentlichen Plätzen oder im eigenen loft. Der Halbwüchsige aber, den man mit ein paar Miligramm Marihuana auf offener Straße er- wischt, wird wie ein Schwerverbrecher behandelt. Er wandert für Monate in den Knast und kann seine Zukunft getrost abschreiben.
Bekanntlich zählte im christlichen Wertekanon des Mittelalters die Habgier noch zu den sieben Todsünden. Im globalen Monopoly von heute gehört sie längst zum Katalog der gewinnbringenden »Tugenden« des homo öconomicus; schließlich ist sie der psychologische Turbomotor der profitgetriebenen Wirtschaftsweise, die alle Poren der Gesellschaft durchdringt. Unter dem doppelten Terror der Ökonomie und der Telekratie, dem unblutigsten und zugleich effizientesten Terrorismus der Geschichte, da Habgier und Konsumsucht, Konkurrenz und sozialdarwinistische Auslese (›survival of the fittest‹) das gesellschaftliche Klima bestimmen, kann die Liebe im Frommschen Verständnis, auch die Nächstenliebe, wohl nur noch in kleinen Nischen und Subkulturen oder in ihren diversen Pseudo-Formen überleben.
Zu letzteren rechnet Fromm auch die sentimentale Liebe, die nur noch ersatzhaft in der Phantasie bzw. stellvertretend auf der Leinwand miterlebt wird. Für viele Menschen ist der Bildschirm oder die Leinwand heute die einzige Gelegenheit, um Liebe zu erleben - als Zuschauer der Liebe anderer Menschen. Dass just der Untergang der Titanic, dieses triviale 100 Millionen Dollar- Rührstück im Wasserbad, zum größten Kassenschlager der Filmgeschichte wurde, zeigt einmal mehr, wie süchtig gerade in einer Zeit des grenzenlosen sexuellen Tauschverkehrs das Massenpublikum nach der »großen Passion« ist.
Doch trotz der tief verwurzelten Sehnsucht nach Liebe - so konstatierte Fromm schon damals - hält man fast alle Dinge für wichtiger als sie: Erfolg, Prestige, Geld. Macht: »Beinahe unsere ganze Energie verbrauchen wir dazu, um zu lernen, wie man diese Ziele erreicht, und fast nichts verwenden wir, um die Kunst des Liebens zu lernen.« Diese aber fällt keinem in den Schoß, sei er auch noch so erfolgreich und mit noch soviel Sexappeal ausgestattet. Die Kunst des Liebens, die mit der »richtigen Sexualtechnik« so viel zu tun hat wie Balzac mit Beate Uhse, muss man vielmehr erlernen wie jede andere Kunst auch, denn sie liegt nicht einfach im Sexualtrieb oder den Genen beschlossen. Zu ihren unabdingbaren Voraussetzungen gehören allerdings Fähigkeiten, die in der heutigen Zivilisation noch weniger gefragt und noch schwieriger auszubilden sind als zu Erich Fromms Zeiten:
Erstens Selbstdisziplin und Frustrationstoleranz - Verhaltensformen, die in der Ex-und-Hopp-Gesellschaft, in der »Nullbock«- und »love-Parade«-Generation unserer Tage nicht gerade »in« sind. Zweitens Konzentration - auf den anderen wie auf sich selbst. Unsere Zivilisation aber führt zu einer unkonzentrierten und zersplitterten Lebensart, für die es kaum eine geschichtliche Parallele gibt. Indem man viele Dinge auf einmal tut - man isst, trinkt, spielt, unterhält sich vor laufendem Fernseher und so weiter, tut man keines mehr wirklich. Jeder Lehrer und Pädagoge weiß heute davon ein Klagelied zu singen. Wenn die Kids nach einem, meist vor der Glotze oder bei Videospielen verbrachten Wochenende, montags in die Schule kommen, ist mit ihnen kaum etwas anzufangen: so unkonzentriert, zappelig und abgelenkt sind sie. Daher auch die zunehmende Schwierigkeit, allein zu sein. Nach Fromm ist aber gerade »die Fähigkeit, allein sein zu können, eine wichtige Bedingung für die Fähigkeit zu lieben«.
Drittens gehört zur Liebe Geduld. Wir aber leben in einer Dromokratie (Virillio) einem künstlichen System der Beschleunigung, das die elektronische Revolution erst richtig auf Hochtouren gebracht hat und nicht nur die Geschäftswelt und die Börse, sondern die ganze Turbo-Gesellschaft in ein modernes Irrenhaus zu verwandeln droht. Der gestresste Zeitgenosse glaubt, Zeit und Geld zu verlieren, wenn er die Dinge nicht schnell, am besten per Mausklick, erledigt; und doch weiß er meist nicht, was er mit der dadurch gewonnenen Zeit anfangen soll - außer dass er sie irgendwie totschlägt.
Last not least ist die Liebe - so Fromm - vom »relativen Fehlen des Narzismus abhängig«, was »die Entwicklung von Demut, Objektivität und Vernunft« erfordert. In unserer juvenilen Ego- und Fitnesskultur jedoch ist gerade der narzistisch-exhibitionistische zum dominanten Persönlichkeitstyp geworden, wie die Sozialpsychologen heute übereinstimmend konstatieren. Sehen und gesehen werden, lautet die Maxime: auf dem Produkt- wie auf dem Persönlichkeitsmarkt. Der Tanz ums goldene Selbst und reife Liebesbeziehungen, die auch Fürsorge und Verantwortlichkeit für den anderen implizieren, schließen jedoch einander aus.
Die massenhafte narzistische Persönlichkeitsmodellierung wird durch entsprechende Leitbilder einer multimedialen PR- und Verkaufsmaschine pausenlos verstärkt und gefördert. Die Menschen, die der heutigen Jugend als bewunderungswürdig und als Vorbild hingestellt werden - ob Models oder TV- Moderatoren, Film- oder Tenisstars, Formel 1-Gewinner oder Bodybuilder, Top-Manager oder Firmengründer auf dem Neuen Markt - sind alles andere als Träger bedeutender menschlicher und seelischer Qualitäten wie persönliche Integrität, Mut, Zivilcourage, soziale Kompetenz oder Bildung (im Sinne nicht des Expertentums, sondern einer umfassenden geistigen Formation). Ihre hauptsächliche Qualifikation besteht darin, dass es ihnen gelungen ist, bekannt oder berühmt zu werden.
Überhaupt droht einer Kultur der Niedergang, die - statt menschlicher Haltungen und Werte - nur noch Informationen, Updates und fragmentiertes Wissen ohne geschichtlichen Kontext und ethischen Bezugsrahmen vermittelt. Zu den selten erwähnten Spesen des frenetisch gefeierten Zeitalters der Informationstechnologien gehört ein »sekundärer Analphabetismus« der ganz neuen Art. Der Verlust kritischer Reflexions- und Diskursfähigkeit sowie von Geschichtsbewusstsein in der mit und durch Computer sozialisierten Generation ist heute schon alarmierend. Hinzu kommt der signifikante Schwund von sozialer Kompetenz. Kein Wunder, dass das Interesse an der Realität, auch an der sozialen, mehr und mehr abnimmt, wenn die bunten, computergenerierten Abbilder der Welt jederzeit per Mausklick in die Wohnstube gezaubert werden können und eine riesige Wachstumsbranche und Werbemaschinerie dem Benutzer Tag für Tag suggeriert, dass nicht nur alles in der Welt im World Wide Web zu finden, sondern dass die Welt im Grunde nicht anderes sei als verwertbarer Rohstoff für die simulierte Welt des www. Wo aber die Wirklichkeit derart entwirklicht und durch ihre digitalisierten Abbilder gleichsam außer Konkurrenz gesetzt wird, wird auch das Denken mehr und mehr von der binären Logik des O oder 1 geprägt. Am Ende dieser Entwicklung könnte ein Denken stehen, das gesellschaftliche, historische, politische, menschliche, psychologische und künstlerische Fragen nicht mehr in ihren Widersprüchen, sondern nur noch in simplen Alternativen und dualistischen Kategorien zu diskutieren und aufzufassen vermag: Null oder eins, »in« oder »out«, aut Cäsar, aut nihil! (Der alte christliche Dualismus von Gut und Böse mutierte ja schon längst im heutigen Jugendjargon zum »geil« oder »nicht geil«. Etwas dazwischen, gar etwas Drittes, gibt es kaum noch). Vielleicht wird uns das digitale Zeitalter, neben all der Zeitersparnis und dem Komfort, den es dem Benutzer zweifelsohne bietet, eine neue scholastische Kultur des »Tertium non datur« bescheren, in der für Widersprüche, dialektisches Denken und Differenzierungen jenseits der binären Logik kein Platz mehr ist.
Einer Kultur aber, die sich nicht scheut, auch die persönlichen Vermittler von Wissen, Werten und menschlichen (Grund)Haltungen, als da sind (oder waren): Eltern, Lehrer, Erzieher, Ausbilder, Professoren, geistige Mentoren aller Art, durch entsprechende Software- und Lernprogramme mehr und mehr zu ersetzen, droht nicht nur der Niedergang, sondern das Aus. Dies hat Erich Fromm, schon lange vor dem EDV- und Telekommunikations-Zeitalter, sehr deutlich erkannt: »Sollte es uns nicht gelingen, die Vision eines reifen Lebens lebendig zu halten, dann stehen wir allerdings der Wahrscheinlichkeit gegenüber, daß unsere gesamte kulturelle Tradition eines Tages zusammenbrechen wird. Diese Tradition beruht nicht in erster Linie auf der Übermittlung gewisser Ideen und Kenntnisse, sondern auf der von menschlichen Haltungen. Wenn die kommenden Generationen diese menschliche Realität nicht mehr erleben können, wird eine fünftausendjährige Kultur zusammenbrechen, auch wenn ihr Wissen weiterhin übermittelt und weiterentwickelt wird.«
Alles in allem keine guten Aussichten - weder für die Kultur der Liebe, wie E. Fromm sie verstand, noch für die Kultur insgesamt!
Quelle: Freitag vom 24. März 2000
Wie das mit dem Copyright aussieht keine Ahnung. Ich hab das einfach nur gelesen und per Copy + Paste hier eingefügt.