Ich war neulich in einem urigen traditionellen holsteinischen Dorf-Gasthof. Dort sollte im Saale brasilianische Musik gespielt werden. Man könnte meinen, das seien zwei Dinge, die nicht zusammen gehen können. Schleswig Holstein und Brasilien. Die holsteinische Ostseeküste im Januar: das sind verschärfte Bedingungen für alle Nicht-Holsteiner. Tagelang wird es nicht richtig hell, die Wolken hängen so tief, dass man glaubt, sie greifen zu können, und die Luft ist so schwer, dass Haare und Pulli binnen kurzer Zeit feucht und klebrig werden. Nicht einmal der konstant aus Südwest wehende Wind schafft es, die Wolkendecke aufzureißen. Um 16.00 Uhr ist es bereits stockfinster und das Geheul des Windes klingt unheimlich in den stillen Straßen.
Bei Tag und bei Lichte besehen ist das Dorf ein reizendes kleines in einer Senke gelegenes Nest. Ein seichter Bach, an dem bei Sonnenschein die Kinder spielen, plätschert mitten hindurch. In der Ortsmitte drängen sich kleine alte Häuser eng aneinander, in deren Gärten im Sommer Stockrosen und Ringelblumen um die Wette blühen. Ein Yogalehrer hat sich dort niedergelassen und ein wunderschönes altes Haus stilecht renoviert. Er wohnt etwas oberhalb des Dorfkerns am Feuerlöschteich. Es gibt einen Verein, der sich um den Erhalt der alten Schmiede bemüht und die „Schweinegilde“, die für das gesellschaftliche Leben zuständig ist. Eine „Gilde“ ist so etwas wie der Schützenverein in Bayern. Obwohl am östlichen Ortsrand, in der Nähe der Umgehungsstraße, ein großes Neubaugebiet entstanden ist, in dem viele junge Familien wohnen, gibt es im Dorf leider keine Grundschule, ja nicht einmal einen Kindergarten. Aber immerhin können Kinder und Katzen gefahrlos auch auf den Straßen spielen, denn Durchgangsverkehr gibt es kaum. Selbst die Gläubigen müssen ein paar Kilometer in den nächsten Ort fahren, um dort am Gottesdienst teilnehmen zu können.
Der gemütliche alte Dorf-Gasthof ist vor vielen vielen Jahren an ein damals junges Paar verpachtet worden, das ein wenig „Unruhe“ ins beschauliche Dorfleben gebracht hat. Sie haben in ihrem Gasthof eine Kleinkunstbühne etabliert, auf der schon so manche Karriere in der Kabarett- und Musikszene ihren Anfang genommen hat. Die „Misfits“ waren z.B. gerne und oft gesehene Gäste, ebenso Horst Schroth, Queen B. etc. Zuerst waren die „Ureinwohner“ skeptisch und fürchteten um ihren ländlichen Frieden, der letztlich aber in keiner Weise gestört wird. Inzwischen ist das Betreiber-Ehepaar auch in die Jahre gekommen und fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft. Der Gasthof bringt viele Touristen und Besucher ins ländliche Idyll. Neben den Gasträumen gibt es außer der Kleinkunstbühne einen kleinen Laden, in dem ausgefallene Kunstgewerbeartikel angeboten werden, und man kann auf dem Anwesen Ferienwohnungen mieten. Zwischen der Theke und dem Gastraum steht ein großer Kachelofen, der um diese Jahreszeit behagliche Wärme ausstrahlt, an der Decke hängen nostalgische Lampen und auf den vier oder fünf Tischen stehen stets frische Blumen. Der Holzfußboden knarrt genauso, wie man das in einer alten guten Stube erwartet.
Ich war zum Konzertbesuch, von dem ich mir eine gewisse Stimmungsaufhellung in diesen trüben Tagen versprach, etwas zu früh dran, und setzte mich wartend mit einem schönen Milchkaffee in den Gastraum. Am Nebentisch nahm in aller Ruhe die Band Platz, um ein Abendessen vor dem Auftritt zu verzehren. GRÜNKOHL UND RÜBENMUS – wie ich ziemlich verdutzt bemerkte. Ich war doch sehr erstaunt über den Geschmack der vermeintlichen Brasilianer, die sich regionale Spezialitäten bestellten. Aber dann hörte ich, dass die Musiker sich auf Deutsch unterhielten. Na, das kann ja heiter werden, dachte ich. Echte Kieler Kinder und dann brasilianische Musik!! „Holsteinische Kaltblüter“ haben normalerweise so viel Temperament wie eine Wanderdüne.
Schließlich gingen im Saal die Lichter an. Frau Wirtin saß am Eingang und stempelte den Besuchern – wie vor 40 Jahren in der Disco – einen Erkennungsstempel auf die Hand. Der Saal ist natürlich ebenso alt wie das ganze Gasthaus und alles andere als gemütlich, von karibischem Flair kann man nun schon gar nicht reden. Aber die Beleuchtungs- und Lautsprecheranlagen sind noch nicht ganz so antiquiert. Es gibt sie dort allerdings noch, die sich drehende Disco-Glitzerkugel!
Zum Glück waren inzwischen noch ein paar weitere Leute gekommen, so dass die Band tatsächlich einige Zuhörer hatte. Dann legten sie los, die temperamentvollen Kieler, und spielten die ersten Samba-Rhythmen. Und innerhalb von Minuten waren alle die Menschen, die diese Musik mögen, verzaubert. Draußen heulte der Südwest um die Hausecken und rüttelte an den knarrenden Bäumen, drinnen vergaßen die Anwesenden die eher schäbige Umgebung. Die Musiker waren perfekt aufeinander eingespielt, die Melodien kamen ganz leicht daher und die junge Sängerin löste die dazugehörige Stimmung aus. Sie hat eine phantastische Stimme, eine sehr lebhafte Mimik und viel Freude an ihrem Auftritt, die sie auch dem Publikum vermitteln konnte. Sie sang hauptsächlich melancholische traditionelle Melodien, nicht dieses Straßen-Karnevals-Samba-Gebrüll. Vor Beginn eines jeden Titels erklärte sie den Inhalt und die Bedeutung des jeweiligen Liedes.
Alle Zuhörer waren begeistert. Nach einem fast zweistündigen Konzert wurden die jungen Leute erst in den Feierabend entlassen, nachdem sie zwei Zugaben gegeben hatten, das unvermeidliche „Mas que nada“ und „Desafinado“. Sie spielten es so schön, dass ich selbst jetzt bei der Erinnerung daran noch eine Gänsehaut bekomme. Nun muss diese Band sich bestimmt bald einen Namen geben, damit man sie wieder erkennt. Derzeit tingeln sie durch die Dörfer der Umgebung und sind noch auf die „Mund-zu-Mund-Propaganda“ angewiesen. Aber ich schätze, dass sich auch in diesem Fall der behagliche Dorfgasthof resp. dessen Inhaber, mal wieder als „Trendsetter“ beweisen.
Ich hoffe, dass meine kleine Geschichte Euch nicht gelangweilt hat. Aber ich bin noch so voller Freude über diesen Abend, dass ich gerne diese Freude teilen möchte. Ich wünsche allen ein schönes Wochenende.
ZitatGepostet von Kielia Ich hoffe, dass meine kleine Geschichte Euch nicht gelangweilt hat. Aber ich bin noch so voller Freude über diesen Abend, dass ich gerne diese Freude teilen möchte. Ich wünsche allen ein schönes Wochenende.
Kielia,
super Geschichte, ist spannend und ich kann deine Freude in deiner Geschichte nachfühlen.
Übrigens, so antiquiert ist das Stempeln auf der Hand gar nicht, hab ich das letzte Mal vor einem Jahr hier in Berlin erlebt.
Danke Euch allen für Eure Antworten. Da sieht man's doch mal wieder: geteilte Freude ist (mehr als) doppelte Freude. Und "meiner" guten Fee ein ganz besonderes Dankeschön für's Mutmachen.
Stürmische Grüße aus dem heute besonders windumtosten Kiel.