35 Jahre und ein paar Monate – und dann – einfach Schluss...
Einfach???
Nein, ein Unfall wäre einfach gewesen, oder ein schneller, natürlicher Tod. Aber so? Den Weg hat er ganz bewusst gewählt – ich glaube, in dem Moment der Entscheidung war er klar, wie lange nicht mehr.
Vom 15. oder 16. Lebensjahr an fings an, erst nur Hasch, dann irgendwann Alkohol, 2 Lehren abgebrochen, die Trinkerei ist ausgeufert in der Bundeswehrzeit, die dann auch vorzeitig beendet wurde. Bürgerliches Leben, das war wohl zu spießig. Der Weg ging bergab, unaufhaltsam.
Freunde, ja, die waren wichtig. Dass es falsche Freunde waren, wollte er nicht wahrhaben. Mehrere Anzeigen wegen Volksverhetzung und Schlägereien, immer „unter Strom“.
Zu der Zeit habe ich den Kontakt abgebrochen. Er war nicht mehr der Bruder, den ich kannte, der schlaue Kopf, der Bücher genauso verschlungen hat wie ich, der über naturwissenschaftliche Themen stundenlang diskutieren konnte, der so wissens- und lebenshungrig war. Er war ein Fremder – hochaggressiv, immer so wütend, und darin grenzenlos, auch gegen mich als Schwester. Einer von denen, die mit gestrecktem rechten Arm herumlaufen. Glatt rasierter Schädel, Springerstiefel.... und uneinsichtig, so verblendet. Einer, wegen dem ich mich geschämt habe.
In den folgenden Jahren war er mehrmals im Gefängnis, weswegen, weiß keiner von uns so genau. Körperverletzungen, Schlägereien, Diebstahl. Nach einem längeren Gefängnisaufenthalt war die Wohnung weg, keine Arbeit, kein Geld – die Entscheidung, auf der Straße zu leben. 1 Jahr, 2? Ich weiß es nicht. Dort lernt er seine spätere Frau kennen, er hat sie angebettelt „... haste mal ne Mark?“ Zu der Zeit war er schon heroinsüchtig, ein Polytoxykomane ist der Fachausdruck. Meine Schwägerin war ebenfalls süchtig, die beiden haben sich in ihrem Elend ineinander verliebt und blieben zusammen, 2 Schlafsäcke, 1 Hund, ein Platz unter einer Brücke.....
Irgendwann im nächsten Sommer folgte die nächste Inhaftierung wegen Drogenbesitz. Meine Schwägerin blieb zurück, zog vorübergehend zu ihrem Bruder. Mit Hilfe ihres Vaters konnten sie sie davon überzeugen, wieder nach Hause zu kommen. Die Familie kommt ursprünglich aus der Nähe von Berlin. Ja, sie wollte mit, aber nur, wenn mein Bruder auch mitkommt. Der Vater hat sie dann buchstäblich auf der Domtreppe aufgesammelt und mitgenommen. Er sorgte dann auch dafür, dass die beiden ganz schnell Therapieplätze bekamen.
Nach 1 ½ Jahren Therapie fanden sie eine Wohnung, beide absolut trocken und clean. Die Therapien konnten in den nächsten Jahren ambulant weitergeführt werden. Meine Schwägerin ist bis heute nicht rückfällig geworden. Nachwuchs stellte sich ein, mein Bruder machte eine Ausbildung und fand tatsächlich nach längerer Zeit auch eine Arbeitsstelle. Mein Neffe ist ein gesunder Junge geworden, meine Schwägerin fand auch eine Arbeitsstelle – Schulden konnten bezahlt, alte Gerichtsverfahren abgeschlossen werden. Alles war schön. Die beiden haben vor 4 Jahren geheiratet.
Ein paar Monate vor der Hochzeit haben wir das erste Mal wieder telefoniert. Einige Zeit später bin ich hingefahren, ganz alleine. Es gab soviel zu klären.
Am Telefon hatte ich es schon gemerkt, aber dann, von Angesicht zu Angesicht, wurde mir schnell klar – der „alte Bruder“ war wieder da. Wir konnten wieder reden - viel geredet haben wir, viel nachgeholt, aufgearbeitet, erklärt. Gemeinsam unsere Kindheitserinnerungen ausgegraben, negative, aber auch positive. Soviel hat sich geklärt – der Ursprung dieser grenzenlosen Wut, diese Selbstzerstörung – ja, so vieles wurde auch mir ganz klar. Und – Haare hatte er – lange, dicke Haare bis zum Ellbogen. Er war so stolz auf seine Mähne und hat sie gepflegt wie eine Frau...
Gesundheitlich sind beide angeschlagen, beide haben mehrere Arten von Hepatitis, die Leber schwer angegriffen. Aber er hatte gute Chancen, dass bei absoluter Abstinenz diese Probleme noch ein paar Jahre Zeit haben.
1 Jahr später fing es an, in der Ehe zu kriseln. Aber es renkte sich immer wieder ein. Vor 2 Jahren in Berlin haben wir uns getroffen. Da waren die Haare kurz geschnitten, wegen dem Job.
Im Sommer dann die Trennung – für mich plötzlich, für die beiden nicht. Mein Bruder zog in eine eigene Wohnung in der Nähe, damit sie sich beide um ihren Sohn kümmern konnten. Anfang September haben wir noch telefoniert, er war sehr optimistisch, sie würden sich gar nicht mehr streiten, manchmal die Wochenenden sogar zu dritt verbringen. „Mach Dir keine Sorgen, mir geht es wirklich gut.“ Vielleicht hätten mich diese letzten Worte zwischen uns hellhörig werden lassen müssen?
Mitte September der 1. offensichtliche Rückfall – er trank wieder. Ende September nochmals, er wurde fristlos gekündigt. Danach wohnte er wieder bei seiner Frau, die alles tat, um ihm zu helfen – entgegen besseren Wissens – aber nur dort trank er nicht.
Vor ein paar Tagen ist er wieder in seine Wohnung gegangen. Am Dienstag Mittag hat er mit seiner Frau telefoniert, wieder betrunken – wollte ihren Sohn am Wochenende abholen und flippte total aus, als meine Schwägerin ihm das verweigerte. Er könne zu ihr kommen und dort Zeit mit ihrem Kind verbringen, aber er könnte ihn keinesfalls in diesem Zustand mitnehmen. Streit, Angst... Mittwoch morgen ein erneutes Telefonat. Er hat sich abends noch den Schädel rasiert.... und vorher Springerstiefel gekauft.... Hin und hergerissen war er, wollte sofort die alte Therapeutin anrufen, damit er eine stationäre Therapie machen kann. Wollte ins Krankenhaus zur Entgiftung, bis dahin hatte er „nur“ Alkohol getrunken.
Mittwoch Abend haben sie wieder telefoniert, er war wieder stark betrunken. Meine Schwägerin hat das Gespräch, bevor es eskalierte, abgebrochen. Das war das letzte Mal, dass sie etwas von ihm gehört hat.
Heute Mittag hat sie ihn in seiner Wohnung gefunden, er hat sich etwas gespritzt – einen Abschiedsbrief hat er hinterlassen. Dass er nicht mehr wollte, dass er das alles nicht mehr erträgt und sowohl den einen als auch den anderen Weg nicht mehr durchsteht. Und dass er sie grenzenlos liebt.
kannst du die sache sagen vor uns fremden. ich bin fremd und hilflos gegenüber deiner trauer. nicht fremd, müsste sie mich übermächtigen.
in deiner trauer wird auch befremden sein, vielleicht auch hass auf empfundenen verrat. in seiner art liess er sich los. auch seine ihm liebsten menschen liess er los.
Liebe Janeway, ich wünsche dir und allen deinem bruder nah stehenden menschen viel kraft, um mit dem geschehen fertig zu werden. Glaube bitte nicht, du oder irgendwer hätte es verhindern können. Auf solche entscheidungen hat nur der betroffene selbst einfluss, niemand sonst. Liebe grüße dir Hermine
:: abschied, der bruder des lebens Abschied nehmen macht in schmerzlicher Form bewusst, dass jeder uns noch so lieb gewordene Mensch uns einfach nur gezeigt ist. Allerdings ist es dann zu spät danach zu fragen, ob wir diesen nur geliehenen Menschen wirklich mit unserem ganzen Leben angeschaut haben.
Sollten wir wieder einen Menschen treffen, den wir niemals verabschieden wollen, dann sollten wir ihn mit unserem ganzen Leben anschauen, denn auch er wird uns nur geliehen sein. Liebe Janeway
Zum Dasein des Menschen gehört der Abschied dazu er ist der Bruder des Lebens. Abschied ist Leben und Leben ist Abschied, weil uns alles nur geliehen ist.
So bleibt für unser Leben nur zu hoffen, dass jene, die wir loslassen müssen, liebende Spuren in eigenen Leben hinterlassen, mit dem wir ganz sie angeschaut haben. Denn der Abschied sehnt sich nach lebendiger Erinnerung.
Das Leben ist manchmal so grausam!Vor Dir und Deiner Familie liegt eine sehr schwere Zeit-ich wünsche Dir ganz viel Kraft!!!Verliere Dich dabei bitte nicht aus den Augen!
Fassungslos habe ich deine Post gelesen, weil ich eine Handvoll Freunde, ob vorsätzlich oder nicht, an diese Teufelsspritze verloren habe Weil du uns an deinem unbeschreiblichen Schmerz teilhaben lässt, möchte ich dir, liebe Janeway, mein herzliches Beileid aussprechen.
Ich spreche Dir von ganzem Herzen mein Beileid aus und wünsche Dir viel Kraft !!!Deine Zeilen haben mich sehr betroffen gemacht. Ich denk an Dich !!! Dagmar