Liebe Annabella ,
zunächst zu Deinen Fragen nach meiner Person:
nein, wir haben keine Kinder und praktische Erfahrung mit Kontrolliertem Trinken (KT) habe ich nicht. Ich habe vor etwas mehr als 20 Jahren mit dem Trinken aufgehört und bin damit das, was man einen trockenen Alkoholiker nennt.
Ich hatte meine Alkoholkrankheit seit weit mehr als einem Jahrzehnt ’vergessen’, obwohl ich zum Teil auch beruflich damit ’in Kontakt’ komme – ich trinke halt keinen Alkohol. Vor etwa einem ¾ Jahr wurde ich als ’Co’ wieder mit Alkoholismus konfrontiert.
In dieser Zeit habe ich mich auch mit dem Thema KT auseinandergesetzt (ich kannte das vorher nicht), indem ich Literatur aus dem Internet gelesen habe. Meine erste Reaktion darauf war, dass ich mir sagte: ’wie kann man nur einen solchen Wahnsinn ...’,
d.h. ich habe sehr emotional, sogar empört reagiert.
Die wichtigsten Gründe für meine Empörung lag in der Art, wie von den Befürwortern über KT berichtet wurde:
- Die Berichte werden in einer ’nüchternen’ Sprache abgefasst, die durch ihre Kälte, Sachlichkeit und vor allem durch den Gebrauch von Konjunktiven und dem, was zwischen den Zeilen steht, geprägt ist. Diese Berichte lesen sich z.T. sehr optimistisch und vor allem, jeder kann das herauslesen, was er gerne lesen möchte. Ganz besonders aber ist, dass
- eine Beschreibung der Zielgruppe fehlt bzw. sehr versteckt ist. Zum Teil ist eine Definition, für wen KT (nicht) geeignet ist erst in Stellungnahmen zu finden, d.h. als Reaktion auf kritische Berichte von KT- Gegnern hin.
- Darüber hinaus, wenn von Erfolgen von KT berichtet wird, wird meist die Alkoholmenge zu Beginn und zu Ende des (mehrwöchigen) Seminars genannt. Es sollte sich jedoch jede ( r) darüber im Klaren sein, dass ein KT für den Rest des Lebens, zumindest einmal über einen Zeitraum von Jahren praktiziert wird. Ein KT- Seminar ist keine mehrwöchige Kur, nach der ein(e) Alkoholkranke(r) ’gesund’ ist !!
Ich habe anfangs in diesem Forum entsprechend ’emotional’ gepostet. Heute gehe ich mit diesem Thema etwas anders um, nicht was den Inhalt von KT selbst betrifft, sondern eher wie ich mit dem Thema an sich umgehe.
Ich glaube, als trockener Alkoholiker KT einfach zu verdammen, ist der falsche Weg. Genauso falsch ist es, wenn ein nasser Alkoholiker beabsichtigt, einfach mal (eine Zeitlang) weniger (oder nichts) zu trinken, um sich damit zu beweisen, dass er es ’kontrollieren’ kann (siehe z.B. Zitat Polar).
Wie ich oben schon schrieb, sollte sich jeder, der mit dem Gedanken spielt, kontrolliert zu trinken zu wollen, darüber im Klaren sein, dass dies zumindest für eine sehr lange Zeit (Jahre !) sein wird. Infolgedessen sollte sich die Person ganz intensiv darüber informieren, z.B. auch im Internet. Nicht nur das Pro (weil es einem passt) sondern auch das Contra lesen.
Und für den absolut wichtigsten Punkt halte ich die Frage, ob ICH (also DU Annabella) zu der Zielgruppe von Personen gehöre, für die KT geeignet ist.
Zu dieser Frage habe ich zuerst 2 Links hier hereingestellt, in denen ich mich auch heute noch, nach mehr als 20 Jahren, wiedererkannt habe:
< Kritische Anmerkungen >
< KT Fragebogen (pdf-Dokument)>
Der erste Link ist von einer Person, die einen persönlichen Bericht abgibt.
Der zweite Link verweist auf einen Fragebogen, der von den KT-Befürwortern selbst entwickelt wurde. Weiter unten sind explizit Anhaltspunkte zusammengestellt, für welchen Personenkreis KT von den Befürwortern
NICHT geeignet ist (Anmerkung: Prof. Joachim Körkel ist wohl der bekannteste Befürworter von KT)
Zitat (aus einer Stellungnahme zu KT)
Das Abstinenzziel als “Ziel erster Wahl“ wird von Körkel (nach wie vor) für diejenigen Personen in Betracht gezogen, - die bereits abstinent leben,
- die körperlich vorgeschädigt sind und bei denen sich der Gesundheitszustand durch weiteren Alkoholkonsum verschlimmern würde,
- die bereits körperliche Entzugserscheinungen erlebt haben,
- die eine Schwangerschaft planen oder schwanger sind,
- bei denen es bereits zu unbedachten Handlungen unter Alkoholkonsum gekommen ist,
- die Medikamente einnehmen, die nicht zusammen mit Alkohol genommen werden dürfen.
Anmerkung: Zu den Medikamenten, die nicht zusammen mit Alkohol genommen werden dürfen, zählen natürlich auch Antidepressiva.In einem anderen Vortrag habe ich sogar ein ’scheinbares’ Argument gefunden, nach dem ich selbst zu dieser Zielgruppe gehören könnte, obwohl ich schon Jahre abstinent lebe, was dem Argument oben widersprechen würde.
Zitat (aus einem Vortrag Pro und Contra KT):
Das Erlernen kontrollierten Trinkens erfordert ein so hohes Ausmaß an Kontrollfähigkeit und –bereitschaft, an Planungsfähigkeit und –bereitschaft, dass es sich hier – wenn überhaupt - eher um ein hochschwelliges Angebot für Abhängigkeitskranke handelt, bzw. eigentlich die Kompetenzen eines recht gesunden Menschen erforderlich sind, um dieses Ziel zu erreichen.
Vorstellen kann man sich durchaus, dass nach jahrelanger Abstinenz mit entsprechender Reifung und Weiterentwicklung der Person die Trinkkontrolle eher gelingen wird als in den labilen Phasen nach Entgiftung oder der ersten Zeit der Abstinenz.[i]Aber ob sich jemand dann noch einmal auf den riskanten Weg einlassen will, muss er selbst abwägen.Es war genau diese Art der ’Sprache’, die mich ursprünglich so fuchsig machte. Diese Argumentation liest sich doch sehr angenehm und geht doch runter wie Öl, denn welche Person möchte nicht ein hohes Maß an Planungsfähigkeit, Kontrollfähigkeit oder Kompetenz sein Eigen nennen!
Sicher habe ich in den letzten 20 Jahren eine Reifung und Weiterentwicklung durchgemacht und dass mir selbst KT eher gelingen würde als jemandem ’in den labilen Phasen nach Entgiftung oder der ersten Zeit der Abstinenz ...’ ist doch (scheinbar) klar.
(Anmerkung: Sollte mir das wirklich eher gelingen?)Aber dann ist da noch der letzte Satz: ..., (das) muss er (ich) selber abwägen.
Und dieser Satz macht alles zuvor Geschribene dieses 'Arguments' hinfällig:
Ich habe doch schon abgewogen und vor langer Zeit entschieden. Ich konnte mein Trinken nicht kontrollieren. Ich habe eine Persönlichkeitsentwicklung durchgemacht, weil ich mich damals so entschieden habe.
Warum sollte ich jetzt wieder anfangen?
Liebe Anabella, ob Du glaubst, zu einer Zielgruppe für KT zu gehören, das musst Du selber entscheiden. Falls Du das glaubst, können wir weiter über KT diskutieren. Als nächstes kämen dann die Regeln, nach denen KT ablaufen soll
(siehe zum Beispiel hier).
Falls Du das nicht glaubst, lies doch noch mal Deinen eigenen Thread hier durch. Du hast auch schon sehr gute Antworten für diesen Fall bekommen.
Lieber Gruß
Werner