Hallo Viktor, ich gönne es den Leuten durchaus. Dein Ansatz bezüglich Zucker, Nikotin und Kaffee ist allerdings konsequenterweise richtig. Wir machen uns mit vielen Dingen dicht. Zucker ist übrigens die Basis von Alkohol. Und warum steckt man Kindern nen Lolli in den Mund, wenn sie Gefühle äussern? Da beginnt schon die Erziehung zum dichtmachen. Für mich ist Alkoholismus nicht die eigentliche Krankheit, sondern das Symptom. Die Suchterkrankung ist viel tieferliegend und eine Erkrankung der Persönlichkeit. Die Abstinenz von Alkohol ist daher die Voraussetzung für die eigentliche Arbeit. Übrigens wird in unserer Gruppe nicht geraucht. Während der Gruppenstunde wird auch nicht gegessen und auch nichts getrunken. Unser Gruppengründer wollte kein Kneipenmilieu, in dem lediglich der Alkohol fehlt. Ist halt seine Ansicht gewesen und wir sind damit gut gefahren. Wenn mans gewohnt ist, gibt es auch kein Problem damit.
Übrigens lasse ich den Leuten durchaus ihren Alkohol usw. Es ist ja ihre Entscheidung. Deswegen ist der Mensch doch o.k. für mich. Allerdings muss ich deshalb nicht verschweigen, was Alkohol für ein Gift ist. Und ich kann durchaus meinen Standpunkt vertreten. Wer sich dadurch in seinem Suchtmittelgebrauch gestört fühlt, nun ja, ich hab mich auch gestört gefühlt, wenn mir andere sagten, Alkohol sei gefährlich. Hat übrigens schon meine Mutter gesagt. Aber ich wusste es ja besser.
Warum ist es eigentlich so, dass aufgrund von Autounfällen und ihren Folgen Winterreifen oder die Anschnallpflicht eingeführt werden, bei 120.000 Toten im Jahr beim Alkohol aber Toleranz und persönliche Freiheit gefordert werden. Wieso wirbt die Fussballmannschaft "Keine Macht den Drogen" und macht Werbung für Hasseröder?
Fast alle Drogen hatten ihre legale Phasen (auch Heroin, Morphium usw.) Die Erfahrung ist: noch niemals hat die gesellschaftliche Freigabe einer Droge dazu geführt, dass ihr Konsum nachliess. Das Gegenteil war der Fall. Die Verbilligung und ständige Verfügbarkeit von Drogen haben zur heutigen weltweiten Drogenkrise geführt. Alkohol gibt es rund um die Uhr, inzwischen auch im Eis, im Kaffee, in Lebensmitteln, Sossen, Torten usw. Bei Haschisch steht die Zigarettenindustrie schon in den Startlöchern. Die Namen sind schon gekauft "Bob Marley" ist schon patentiert und das Bäckerhandwerk wird noch viele schöne Kuchen präsentieren.
Sicherlich sollte sich jeder Süchtige um sich selbst kümmern. Schließlich geht er allein ins Grab. Die anderen kommen ja nicht mit, die an ihm verdienen oder ihn benutzen. Er kann nicht warten bis die Gesellschaft sich ändert. Umgekehrt halte ich es aber auch für falsch, zu sagen, dass es nur mein Problem ist. Zur Sucht gehört auch immer ein entsprechendes Netz, in dem sich die Sucht breitmachen kann. Daher hat auch die Gesellschaft eine Verantwortung, aus der sie nicht entlassen werden darf.
Denn kein Süchtiger wird mit Absicht abhängig. Kaum jemand stellt sich hin und sagt, jetzt saufe ich, bis ich süchtig bin. Jeder denkt doch, ich doch nicht. Als anständiger Bürger werde ich doch nicht süchtig. Wie der Hase wirklich läuft, das erfahre ich erst, wenn ich bereits voll drin sitze - und das, wenn ich Glück habe.
90% der alkoholkranken Menschen kommen garnicht mit Suchthilfeeinrichtungen in Berührung! Von daher habe ich wahnsinniges Glück gehabt, die richtigen Menschen und Einrichtungen gefunden zu haben. Erst dadurch hatte ich die Chance, von der Quelle der Genesung zu trinken.
Daher halte ich auch eine Menge von Prävention. Sicherlich war ich anfangs zu recht gehalten, mich nur um mich zu kümmern. Wenn ich allerdings den aufrechten Gang wieder erlernt habe, ist es sicher richtig, dort präventiv zu wirken, wo ich es kann. Daher gehen wir auch in die Schulen, in den Konfirmationsunterricht. Bei Elternsprechtagen, Klassenfahrten usw. gibt es oft Ereignisse, zu denen Stellung genommen werden kann aus unserer Sicht.
Allerdings hilft es nicht, zu verdammen und zu verurteilen. Das hat ja bei mir auch nichts bewirkt. Allerdings hat die Wahrheit ihre Wirkung schon gehabt, auch wenn sie mir nicht gleich gefiel.
Lieben Gruss Matthias
Anmerkung: Die 120.000 Toten pro Jahr sind nicht korrekt. Das ist die Zahl der Nikotintoten. Beim Alkohol sind es 80.000.
hallo Matthias, dann weise ich aber noch auf Graf Zinzendorff hin, welcher anno (etwa) 1890 eine Einöde erwarb, um dort ein Haus zu bauen (das liegt in der Altmark in Sachsen-Anhalt, Nähe Stendal) wo er Alkoholiker beherbergte (damals noch mit Abtrinken gegen Dilirium, man kannte noch kein Distra). Ergebnis: das Blaue Kreuz, mit Stammsitz damals in Berlin-Neukölln (der Leiter dieser Gruppe ist mein Freund). Diese Einrichtung im Grünen gibt es heute noch, dort wied gearbeitet, gesungen, gebetet, in freundlicher Ruhe, und sich schlau gemacht in realer Psychologie vom Alk. ich grüße dich, Max
hallo Matthias, hallo Vicco, " ..Zur Sucht gehört auch immer ein entsprechendes Netz, in dem sich .." // Da sind wir uns sicherlich einig: die eigene Sicht von mir für mich ist das eine, und die Einbindung oder Ableitung aus dem Umfeld ist das andere. Beide sind sicher so eine Art dialektischer Einheit, Gruß Max
Hallo Max, Du hast insofern recht, dass es sogenannte Trinkerheilanstalten gab. Der qualitative Durchbruch, die Erkenntnis und Annahme der Krankheit durch den Kranken selbst kam meines Wissens erst von Bill und Bob. Die Arbeit des Blauen Kreuzes ist ja deswegen nicht schlecht. Es gab ja auch noch andere, die sich um Alkoholiker kümmerten. Allerdings auf einer anderen Basis. Es gab in den USA auch die Anti-Saloon-Bewegung der Frauen. Ich meine auch schon von einem Arzt gehört zu haben, der um 1700 zur Erkenntnis kam, Alkoholismus sei eine Krankheit, aber er war ein Einzelner unter den damaligen Medizinern. Übrigens ist die Krankheit anerkannt bei uns erst seit 1967. Eine doch recht kurze Zeit, geschichtlich gesehen. Matthias
Sicherlich brauchen wir ganz viele verschiedene Gruppenangebote. Es gibt offene Gruppen, wo man auch mit Fahne hinkommen kann, es gibt Gruppen wie unsere, die die Fahne nur am Anfang akzeptieren, weil es wiederum Freunde gibt, denen bei ner Fahne schlecht wird und die Gruppe verlassen müßten, es gibt Gruppen, bei denen geraucht werden darf, bei uns eben nicht, was die rauchfreien Leute schützt. Je mehr Gruppen, desto besser und desto weniger Ausreden, keine passende gefunden zu haben. Es gibt Gruppen, die haben eine feste Zusammensetzung mit festem Raum, festem Leiter, bei uns gibt es ein Betreuungsteam von ca. 18 Gruppenleitern, aber die gehen in verschiedene Räume und die Leute suchen sich ihre Arbeitsgruppe am Gruppenabend jeweils selbst aus. Das ist gut für Leute, die sich ihren Weg alleine suchen, wer wiederum seinen Stammplatz braucht und "geführt" werden will, der ist sicher besser in einer anders aufgebauten Gruppe aufgehoben. Aber das muss jede(r) selbst rausfinden.
Wir erklären unseren Freunden auch wie andere Gruppen arbeiten und geben so die Möglichkeit, eventuell zu wechseln oder sogar eine eigene neue aufzubauen.
Wir sagen, es gibt tausend Wege in die Sucht, also gibt es auch tausend Wege raus, für den Einzelnen aber gibt es nur den einen - nämlich seinen eigenen. Wir sagen aber auch, dass wir das Konzept unserer Gruppe beibehalten und nicht jeweils den Wünschen des Einzelnen anpassen, weil das dann so wird wie die Geschichte mit dem Mann, dem Kind und dem Esel.
Wichtig ist, dass jemand aufsteht und losgeht. Ob er das in stiller oder in rebellischer Form macht: er wird die Antworten bekommen, die er braucht. Nicht die, die er will, sondern eben die, die notwendig sind.
Lasst viele Blumen blühn hiess es mal in China. Für die Suchtlandschaft sicherlich ein sympathisches Motto.
Alkohol wurde schon mal verboten und das schuf das organisierte Verbrechen und die Mafia. Aber, wenn wir schon am verbieten sind: Fleisch, besonders fettes, Zucker, Kaffee und Zigaretten ebenso. Nur, was kann der Großteil der Allgemeinheit, der gerne Alkohol in unschädlichen Mengen trinkt, dafür, dass ich es nicht auf die Reihe kriege?
ZitatGepostet von Nixverdruss Nur, was kann der Großteil der Allgemeinheit, der gerne Alkohol in unschädlichen Mengen trinkt, dafür, dass ich es nicht auf die Reihe kriege?
... Grossteil und schädliche Menge ...
Die aktuelle Zahl dazu: 10000000 (10 Millionen) Deutsche trinken sogenannte schädliche Mengen an Alkohol ...
hallo Matthias, " . . Krankheit anerkannt bei uns erst seit 1967. ." // Bob und Bill sind anerkannt diejenigen welche! ganz unstrittig. 1967 hatte ich schon wieder vergessen, das war damals eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Ost und West. Bis dahin war Alkoholismus noch ein "Rudiment der im absterben befindlichen kapitalistischen Gesellschaft", ein echter Treppenwitz. Zumal die Quote in Ost und West, bei Mann und Frau, bei jünger und älter, bei 'höher stehend' oder proletarisch usw. identisch war. Gruß Max
Hallo Nixverdruss, genau auf diese Geschichte mit der Mafia habe ich noch gewartet. Dieses Hollywood-Märchen wird ja immer schön verbreitet. Hört sich ja auch erst mal toll an. Aber dann frage ich einfach mal, warum es in Italien ne Mafia gibt und in Russland. Da gabs doch gar kein Alkoholverbot.
Die Wahrheit ist etwas anders. Die Anti-Saloon-Bewegung und die allgemeine Antialkoholeinstellung der us-amerikanischen Bevölkerung hat mit der Einführung des Frauenwahlrechts die amerikanischen Politiker bewegt, diese Gesetze gegen den Alkohol einzuführen. Es lag auch die überwiegende Akzeptanz des Volkes vor. Als die US-Regierung einige Zeit später Geld brauchte und die Steuern erhöhen wollte, intervenierte insbesondere die Autoindustrie. Um für die Industrie die Steuern abzuwenden machten sie den Vorschlag, Alkohol zu legalisieren und mit den Steuern den Staatshaushalt zu sanieren. Vom Volk kam dieses Verlangen nicht! Richtig ist, dass der Alkoholschmuggel von Kanada zunahm und dort die Whisky-Industrie profitierte und richtig ist auch, dass es illegale Geschäfte durch die Mafia gab. Aber angesichts der gesamten Situation ist das nicht der Grund, dass die Gesetze gekippt wurden. Sicherlich ist ein Alkoholverbot insgesamt keine Lösung, die einfach so funktioniert. Dazu gehören noch viele andere Begleitmassnahmen. Es würde ja vielleicht schon eine Verknappung durch staatliche Läden und über den Preis funktionieren, dass nichtsüchtige Menschen sich überlegen, ob sie Alkohol zu sich nehmen. In den nördlichen Ländern war die restriktive Alkoholpolitik der produktivste Weg, um mit dem Alkoholproblem gesellschaftlich besser klarzukommen. Denn Schweden etc. haben eine liberale Politik bereits probiert und es wurde ganz schlimm, so wie jetzt in Rußland und in der Ukraine. Die Duma der Ukraine hat Poltiker hierher geschickt, um sich hier zu erkundigen, was man gegen diese Krankheit machen kann. Sie haben um Hilfe gebeten, weil sie sagen, die Bevölkerung stirbt an Alkoholismus!!!
So einfach ist die Geschichte nicht gestrickt, dass man mit einem Alkoholverbot die Mafia kreiert. Das ist wohl so in den Hollywood-Filmen. Aber da es sich so einleuchtend anhört, war ich auch sehr überrascht, als ich die andere Seite der Geschichte hörte.
Aber das ist jetzt die Ebene gesellschaftspolitischer Fragen. Die AA haben die Erfahrung gemacht, dass eine solche Auseinandersetzung die Genesungsarbeit stört, weil es zu Streit in der Gruppe führt. Diese Art Streit kann für Freunde abschreckend sein.
Daher höre ich hier mal einfach auf. Das sind sehr interessante Themen, die sicherlich auch an passender Stelle geführt werden müssen und sollen. Hier ist das von mir einfach mal eine Anregung, die aufzeigen soll, dass unser Weltbild oftmals erschüttert wird. Die Bereitschaft, sogenannte Allgemeinweisheiten zu hinterfragen, sollten wir durchaus haben, um Klarheit zu gewinnen.
Was bringt es denn, den Alkohol verbieten zu wollen? Koks, Extasy oder Haschisch z.B. sind verboten - und hunderttausende konsumieren. Und wer verdient daran - richtig: der Kandidat hat 100 Punkte: die Mafia und diejenigen in Politik + Gesellschaft, die für viel Geld die Augen zumachen.
Weißt Du, ich habe die Devise: Das Leben als solches ist das Gefährlichste - es führt zum Tod. Und selbiges kann man/frau nicht verbieten.
Wo fangen wir an, was verbieten wir zuerst: das Gleitschirmfliegen (hallo Hoerby :hallo1, das Motorradfahren, Schokolade, Eis, Hamburger, Bergsteigen, Skifahren, Rauchen (nicht vergessen!)... es gibt viel zu verbieten, fangen wir an, kämpfen wir den Kampf gegen die pöhse Gesellschaft, gegen die pöhsen Multis
Ich will um Himmels willen Dein Engagement nicht runterreden - wie oben mal gesagt, ich war früher auch so. Wollte wegen jedem fehlenden Kindergartenplatz die Revolution ausrufen. Mitte/Ende der Siebziger habe ich dann nicht mehr auf die Revolution gewartet, sondern zusammen mit anderen den Kindergarten organisiert. Ging nicht anders, die Kidis brauchten ihn. Folgerung für mich: die pöhse Industrie macht weiterhin Werbung, die Leute saufen sich weiterhin zu Tode, das Gesundheitssystem kollabiert. Was also tun?
Ich fände es sehr interessant, wenn wir in einem eigenen Thread andiskutieren, was kann ein Einzelner in seiner Umgebung sinnvoll tun, um über die Selbsthilfe hinaus z.B. präventiv bei Jugendlichen tätig zu werden. Für mich funktionierte das nur ohne den Holzhammer. Ich habe mich früher immer gewundert, warum ich nie Leute von meiner Meinung überzeugen konnte - ich konnte doch stundenlang mit den allerbestenallerschlimmsten Argumenten auf sie einreden.
Das jetzt unsortiert kurz vor dem Schlafengehen. Vielleicht hat jemand eine Idee, wo so ein Gesprächsfaden sinnvoll initiert werden kann.
Grüße Viktor
P.S. Da fällt mir noch eine Geschichte ein: ich war von männerdominierten Gesprächsgruppen her gewohnt, daß stundenlang diskutiert wurde, um zum Schluß dann vielleicht zu einer Aktion zu kommen. Meine Frau war nach der Geburt unserer ersten Tochter Leiterin einer Stillgruppe. Da trafen sich 5 - 10 junge Mütter mit Kindern im Alter von 0,1 - 5. Was mich verblüffte: die Frauen ratschten, versorgten ihre Kinder ... und nach 3 Stunden hatten sie außerdem einen Klinik- und Ärztebesuchsdienst samt dem notwendigen Flyer organisiert. Whow