Zitat von nino im Beitrag #225Wo ich anfangs mehr Schwierigkeiten hatte - und für entsprechende Rückmeldung hier dankbar war - wie ich damit umgehe, dass andere scheinbar weniger zielgerichtet in der Therapie sind: Leute, die rumeiern / tröge die Termine absitzen, ohne was zu sagen, ohne zu reflektieren / die regelmäßig Rückfälle bauen und diese als "mal getrunken, aber ja nur ein Vorfall" verklären. Da habe ich mich von der Vorstellung getrennt, dass wir irgendwie als Team die Reha "bestehen" müssen. Wenn andere die Möglichkeiten nicht nutzen, muss ich mich eben nicht mit runterziehen lassen oder am Erfolg zweifeln.
Diesen Aspekt finde ich auch sehr sehr spannend. Im Grunde geht es doch immer um einen selber. Sich auseinandersetzten mit sich, durch Selbstreflexion, das Spiegeln durch andere, die Konfrontation mit anderen, das Arbeiten für sich und mit Gruppen. Und genau den Punkt finde ich mega interessant. Es geht aus meiner Sicht darum, immer bei sich zu bleiben. Zu beobachten, wie man andere wahrnimmt, wie andere auf einen wirken, wie das Verhalten, die Worte, das Tun oder nicht tu der anderen auf einen wirkt, was es in einem auslöst und wie man damit umgehen will. Das ist es für mich im Kern, wie man selbst weiterkommt. Auch, wie man selbst auf andere wirkt, wie die einen wahrnehmen als Person, im tun, im Handeln, im Reden etc.
Zu deiner Frage , wie man damit umgeht, dass andere weniger zielgerichtet sind, möchte ich gern sagen, dass ich das jeweils unterschiedlich handeln kann. Manchmal gelingt es mir, das einfach so stehen zu lassen, weil ich denke, dass es deren recht ist, das zu tun, weil wir alle frei sind und jeder seinen Rhythmus hat. Ich stelle dann für mich fest, dass es mir nicht nahe geht, mich nicht tangiert und ich es einfach so stehen lassen kann. Neutral. Dann gibts Momente, da macht es mich fuchsteufelswild! Da verurteile ich das extrem. Vor allem, wenn sich jemand als Opfer inszeniert. Da werd ich dann ganz schlimm ungerecht. Und irgendwann merke ich, dass das niemanden etwas bringt, auch mir nicht. Nur weil ich auf dem Weg und fest entschlossen bin, muss der andere das nicht sein. Nachdem sich die Wut gelegt hat, kann ich damit gut umgehen. Und der anderen Person auch positiv begegnen.
Was für mich ganz schlimm ist, wenn Menschen denken, sie seien besser oder höher gestellt als andere. Ich arbeite schon viele Jahre mit bedürftigen und auch ausgegrenzten Menschen durch freiwillige soziale Arbeit. Bei mir steht der Mensch im Vordergrund. Ich empfinde es als ganz grosser Privileg, so ein gutes Leben führen zu dürfen. Menschen begegne ich hoffentlich immer auf Augenhöhe, weil es mir um den Menschen geht und nicht, darum, was er hat. Hab z-B. einen Mittags- und Sonntagstisch für Bedürftige mitbegründet und koche und backe dort auch regelmmässig für unsere Gäste. Das sind Familie und Menschen, die nicht viel haben und sich über was Gutes zu essen von Herzen freuen. Da sitzen alle an einem Tisch und es ist egal, ob jemand unter der Brücke wohnt, oder in geregelten Verhältnissen. Wie sind dort Menschen. Die Lebensmittel beziehen wir von ortsansässigen Händlern, die an der Aktion "gegen Foodwaste" teilnehmen und uns die Ware geben, die sonst abends im Müll landen würden. Kistenweise bestes Gemüse, Fleisch, Früchte. Joghurts usw.
Hier musste ich lernen, dass manche einfach noch nicht so weit sind, sich helfen zu lassen. Ein Mann lebt seit vielen Jahren mit seinem Hund auf der Strasse. Wir führen oft Gespräche. Ich bin immer fasziniert, wie klug er ist, wie geistreich und der Welt gegenüber nicht böse. Ich freue mich immer, wenn Bedürftige unser Angebot wahrnehmen und ein warmes Essen und ein wenig Herzlichkeit annehmen und ins Gespräch kommen.
Zitat von Julia im Beitrag #226[quote="nino"|p3631221] Vor allem, wenn sich jemand als Opfer inszeniert. Da werd ich dann ganz schlimm ungerecht.
Dabei sind wir Alkoholkranken es erstmal zu einem Teil Alle. ;-)
Der entscheidende Schritt, klar, ist der, den Weg weg davon zu finden. Aber das braucht nun mal unterschiedlich lange Zeit, bzw. erreichen auch nicht alle. Sollte man nicht vergessen, auch für sich selbst nicht.
Ich bin da, auch aus Erfahrung, lieber milde. Steht mir selbst auch besser. :-D
Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du nicht einfach einen Satz/ein Zitat aus einem Gesamtzusammenhang reisen würdest. Danke!
Ich habe meinen Umgang damit wie folgt beschrieben:
Zitat von Julia im Beitrag #226Zu deiner Frage , wie man damit umgeht, dass andere weniger zielgerichtet sind, möchte ich gern sagen, dass ich dasjeweils unterschiedlich handeln kann.Manchmal gelingt es mir, das einfach so stehen zu lassen, weil ich denke, dass es deren recht ist, das zu tun, weil wir alle frei sind und jeder seinen Rhythmus hat. Ich stelle dann für mich fest, dass es mir nicht nahe geht, mich nicht tangiert und ich es einfach so stehen lassen kann. Neutral. Dann gibts Momente, da macht es mich fuchsteufelswild! Da verurteile ich das extrem. Vor allem, wenn sich jemand als Opfer inszeniert. [b]Da werd ich dann ganz schlimm ungerecht. Und irgendwann merke ich, dass das niemanden etwas bringt, auch mir nicht. [/b]Nur weil ich auf dem Weg und fest entschlossen bin, muss der andere das nicht sein. Nachdem sich die Wut gelegt hat, kann ich damit gut umgehen. Und der anderen Person auch positiv begegnen.
[/b]
Es gelingt mir mal so und mal so. Dieses wütend werden hat mit meinen Emotionen zu tun, das ist spontan. Wenn ich dann darüber reflektiere, kann ich eben auch "milde sein". Es geht dabei um mich, nicht um den anderen. Es ist mein Weg zu lernen!
Und reiße auch nicht aus dem Zusammenhang; man sollte nur nicht vergessen, dass man selbst auch Opfer ist/war. Das kommt in Deiner Reflexion oben nicht wirklich raus. Darum gehts.:-)
Ich lebe nicht in Deutschland und hier gibt es kein "ß". Ich habe auch keines auf meiner Tastatur. Daher ss, oder manchmal auch nur s. Hin und wieder, sehr oft, wird einem hier durch den Selbstkorrekturmodus einfach ein Wort draus gemacht, das man so nicht schreiben wollte. Kennen wir sich alle. Manchmal setzt der Korrekturmodus "ß" und manchmal nicht. Wobei Reisen ja eine schöne Metapher ist
Zum Opferstatus: Ich bin und war nie ein Opfer. Warum auch? Ich habe es doch selbst zu verantworten, wie ich mit meinem Leben umgehe. Manches läuft gut, manches scheisse. Dass ich mich fürs Saufen entschieden habe, hat doch nichts mit Opfer sein zu tun. Es ist ein selbstzerstörerisches Verhalten, eine Strategie, die vermeintlich ein Lösungsweg zu sein scheint. Die Quittung kommt dann irgendwann, wenn man man Boden ist. Ist man deshalb ein Opfer? Man kann doch dann einen anderen Weg gehen.
Ich habe sehr viel schlimmes in meinem Leben erfahren müssen. Wie ich in einem anderen Post schon schrieb. Das Leben verlangt von uns oft, Dinge wegzustecken, für die wir gar keine Taschen haben. Wir müssen dann schauen, wie wir damit umgehen. Sorry, dass ich echt nicht in die Opfer-Narration einsteigen kann. Wo Opfer sind, sind auch Täter. Dann sind wir bei Klischees, Stereotypen usw. Ich glaube an die Kraft, die lieg in jedem von uns.
Wenn du gern ein Opfer sein willst, steht dir das natürlich zu. Das entscheidet ja jeder für sich selbst.
Es gibt nichts klarzustellen, nino. Ich wusste seinerzeit doch selber nicht, wohin die Reise geht. Ich habe mit der Therapiegruppe zusammengearbeitet ohne mir Gedanken zu machen, wer es da jetzt vielleicht nicht "ernst" meint, wenn ich mir meiner Sache selber nicht mal sicher war. Ich hatte genug mit mir zu tun.
Einige von uns kommen ab und zu zum Jahrestreffen. Ich war auch schon zweimal dabei. Es sind nur wenige, die heute noch völlig clean sind. Deshalb aber unterhalte ich mich mit denen doch auch, wenn wir bereits während der Therapiezeit guten Kontakt hatten. Ich bekam trotzdem von vielen den Eindruck, dass sie von dort einiges für sich mitnehmen konnten.
Deshalb muss ich ja nicht die Verantwortung gleich für andere mitübernehmen. Das stimmt schon, das mache ich auch nur für mich und das hab ich bestimmt so hier nicht ausgedrückt. Na ja, und was du jetzt mit dem "Rest der Welt" so ausdrücken wolltest belasse ich einfach mal in deiner Fantasie. Mir gehts lediglich um den Lesestoff, den ich hier so unterbreitet bekomme.
meine Erfahrungen mit der Therapie bzw. meinen Mitpatienten ist, das man dort auf alle möglichen Typen und Motivationen trifft. Wo ich war waren längst nicht alle "freiwillig" dort, zum Teil auf Grund gerichtlichen Auflagen, zum Teil aus anderen äußeren zwingenden Gründen, zum Teil aus echter Einsicht etc. ppp! Ich glaube auch nicht, daß die eigene Therapiechance in erste Linie davon ahängt, ob möglichst viele voll motiviert sind oder nicht. Mit den man sich befreundet, das sind die die fürs Wohlbefinden zuständig sind, die jenigen die man weniger mag sind die, die einem manchmal auch mal unverblümt die ungeschminkte Wahrheit unter die Nase reiben. So gesehen sind alle sind wichtig für einen selber. (trifft auch übrigens für so ein Forum hier zu!) Wichtig ist allerdings sehr wohl das Therapeutenteam für die Qualität einer Therapie.
Auch meine persönlich Erfahrung ist, daß im Sinne von wer schafft es am Ende und wer nicht, kaum zuverlässliche Vorhersagen getroffen werden können, auch nicht vom Team! Viele die "Bestnoten" bekommen haben, hats in nullkommanix zerlegt andere bei denen ein baldiger Rückfall befürchtet würden haben hingegen gar nicht selten die Kurve gekriegt.
Wer, wann, warum die Kurve kriegt, ist wohl immer noch kaum wirklich rational erklärlich! Es liegt in aller erster Linie hauptsächlich an einem selber, so denke ich!
Zitat von Julia im Beitrag #230 Ich bin und war nie ein Opfer. Warum auch?
Wenn du gern ein Opfer sein willst, steht dir das natürlich zu. Das entscheidet ja jeder für sich selbst.
Deine Geschichte liest sich ganz anders. Aber wenn Du das so sehen willst, ist das Dein Ding.
Und nein, vom "Opfer" bin ich lange weg, aber ich war zum Teil auch Opfer, ungefähr so wie Du, denn meine Kindheit/Jugend war alles andere als aufbauend.
Aber der Begriff an sich scheint Dich ja ziemlich zu triggern. Opfer sind übrigens nicht die, die sich dazu machen, und, so wie Du es in einem heutigen Beitrag siehst, ein ungemein verantwortungsloses Anspruchsdenken an die Gesellschaft haben.
Was ich Dir gerne raten möchte, auch wenn Du sämtliche Therapien, egal welcher Art, für Dich ausschließt: Schau Dir mal ein paar SHG an. Und wenn es "nur" hilft, sich regelmäßig die eigene Situation bewusst zu halten und zu machen, und zu sehen, dass Niemand mit seiner Sucht alleine ist.
Hi, bin seit gestern Nachmittag zurück vom Zauberberg. Acht Wochen Biotop da oben ;-)
Habe die Nachtschwäschter vermisst, die sonst jeden Abend zwischen 22 und 23 Uhr gucken kommt, ob die Damen auch brav in ihren Bettchen liegen (naja, im Zimmer zu sein reicht auch…). Die optischen Reize, wenn da mit der Taschenlampe gefuchtelt wurde sowie das Schwäschtern-Latschen-Quietschen auf dem Linoleum, wenn der Fuß den Halbkreis zurück zur Zimmertür vollführte – das hat mir gefehlt, diese Nacht. Vielleicht sollte ich eine Rentnerin aus der nahen Nachbarschaft gegen Entgelt bitten, diese Rolle einzunehmen? An was man sich alles gewöhnen kann. ;-)
Ansonsten war es die erste Reise, von der ich je mit lauter frisch gewaschener Wäsche zurückkam, ich genieße jetzt die drei freien Tage und am Montag werde ich dann wieder ab 7:30 Uhr das Bruttosozialprodukt erhöhen helfen…
Substanzielleres schreibe ich, vielleicht, erst mit mehr zeitlichem Abstand. Jetzt halte ich meine Nase erste einmal wieder in den Wind der freien Wildbahn – keineswegs übermütig aber doch mit dem gestärkten Gefühl, dass Alkohol keine Option mehr ist. Auch nicht in Zukunft. Mein Arsenal zu meinem Schutze ist gewachsen und mein unbedingter Abstinenzwille hat eine andere, fühlbar tiefere Qualität als in den davor liegenden Monaten der Trockenheit. Dennoch gehe ich mit mir erst einmal um wie mit einem rohen Ei. Ich passe gut auf mich auf.
Viele Grüße, Susanne
----------------------------------------- Optimismus ist, bei Gewitter auf dem höchsten Berg in einer Kupferrüstung zu stehen und »Scheiß Götter!« zu rufen. (Terry Pratchett)
diesen Thread begann ich mit den Worten: „Da saß ich dann da, an einem Aprilabend 2017“ Wieder ist es ein Aprilabend, ein Jahr später.
Viel habe ich getan, in der Zeit. Das Aufsuchen einer Beratungsstelle und das Gelangen zur Erkenntnis, dass ich für meinen Wunsch, dauerhaft aus der selbstschädigenden Alkoholspirale herauszukommen, professionelle Unterstützung annehmen sollte, waren die ersten wichtigen Pfeiler. Gemeinsam mit der Suchtberatungsstelle habe ich den Antrag auf eine so genannte Kombinationstherapie gestellt – acht Wochen stationäre Rehabilitationsmaßnahme, gefolgt von sechsmonatiger ambulanter Phase. Eine ausschließlich ambulante Therapie kam für mich nicht in Frage: ich war zu erschöpft, zu sehr in den letzten zwei Jahren schon am meine Leistungsgrenzen gekommen und wegen des vielen Alkohols auch weidlich darüber hinaus, als dass ich mir für mich hätte vorstellen können, zwei Mal pro Woche abends nach der Arbeit aus einer solchen Therapie ausreichend Kraft und Heilungschancen beziehen zu können. Aus beruflichen Gründen kam ebenso wenig eine Langzeittherapie von 15 oder 16 Wochen in Frage. Von Mitte Januar bis Mitte März war ich in der von mir beantragten und von der DRV bewilligten Fachklinik Höchsten.
Bereits am Tag nach meiner Ankunft war ich seelisch dort angekommen; eine sehr schöne Architektur, Makler würden sagen: „lichtdurchflutete“ Räumlichkeiten, überall der Blick über Felder bis an den Wald und zum Kloster Sießen (wo es im Klostercafé extrem leckeren Kuchen gibt) sowie bei gutem Wetter bis zu den Schweizer Alpen, ein großzügiges Zimmer und relativ gutes Essen ergaben eine gute Basis für die vor mir liegende Therapie. Die Klinik bot mir den großen (und für mich seelisch so dringend benötigten) Luxus-Dreiklang: Zeit – Raum – Ruhe. Und die dort arbeitenden Menschen schaffen es, eine Art „abstinenzfreundliche Atmosphäre“ zu kreieren. Ich kann diese Atmosphäre, die mir sehr geholfen hat, nur ungenau beschreiben. Ach, vielleicht ist es auch ganz einfach: Ein ganz normaler (wenn auch nicht sehr aufregender) Tagesablauf mit drei regelmäßigen Mahlzeiten, Sport und sonstige Gruppenaktivitäten, bisschen Zimmer-Aufräumen und Spazierengehen, die Möglichkeit zum Schließen neuer Freundschaften, guter Schlaf - und das alles ohne Alkohol, als wäre das normal. Und bei dem Gedankengang stutzt man, denkt nach und kommt zu dem Schluss: Ist ja auch normal. War es nur für längere Zeit nicht für mich und nicht für die anderen Frauen.
Die Klinik hat einen psychoanalytisch- interaktionellen Therapieanspruch (einer der Gründe, warum ich mich für sie entschieden hatte neben der Lage und dass ausschließlich Frauen dort behandelt werden), den sie nicht einhält, dem nahezukommen die Therapeuten jedoch aufrichtig bemüht sind. Da nach den ersten beiden Wochen des Aufenthalts die Einzeltherapiesitzungen auf 25 Minuten pro Woche beschränkt sind (eine Entscheidung der Kostenträger DRV bzw. Krankenkassen) ist allein hier schon eine Diskrepanz zwischen gewünschter Tiefe einerseits und Refinanzierung andererseits offenkundig. Kernstück sind die gruppentherapeutischen Sitzungen. Die 96 Frauen sind auf acht Gruppen aufgeteilt, davon eine Gruppe von Essgestörten, zwei für Frauen, die von illegalen Drogen abhängig sind und alle anderen verteilen sich auf die Gruppen der schwerpunktmäßig Alkoholabhängigen (vermischt mit Schlaftabletten etc.), so dass jede Gruppe um die 12 Teilnehmerinnen aufweist.
In „meiner“ Gruppe waren 9 „Kurzzeit“-Patientinnen, so wie ich, so dass leider systemimmanent ein häufigeres „Kommen und Gehen“ herrschte, als in den anderen Gruppen mit 15-16 oder sogar 26 Wochen Aufenthaltsdauer. Viel Zeit ging deshalb unvermeidlich in den Gruppentherapien darauf, Patientinnen zu verabschieden, bzw. bei neuen Patientinnen die nächste Vorstellungsrunde zu absolvieren, was bei 12 Teilnehmerinnen schon immer eine Weile in Anspruch nimmt. Die Gruppentherapien fanden stets montags, mittwochs und freitags von 10:30 Uhr bis 12:00 Uhr ohne Pause statt. Unser Gruppentherapeut war einer der wenigen, wahrscheinlich sogar der einzige, der nicht einen Tag wegen Erkältung / Grippe oder Ähnlichem krankheitsbedingt gefehlt hat. Chapeau! Kernstück der Gruppensitzungen sind die so genannten „Bilanzen“. Eine Methode, die ein Gerüst bietet, den Verlauf des eigenen Lebens den anderen Gruppenmitgliedern und dem Therapeuten darzulegen. Hierzu benutzt man jeweils maximal fünf Karten verschiedener Farben für a) die üblichen Phasen (Kindheit, Jugend, Berufsausbildung, Familiengründung, beruflicher Werdegang, etc.) b) die guten Zeiten im Leben, c) die schlechten Zeiten im Leben, d) die Entwicklung der Sucht. Zusätzlich gibt es eine Karte in Rot, für die, die rauchen. Und orange für weitere Suchtmittel. Rauchen wird stets als weiteres Suchtmittel eingestuft und soll z.B. bei den Vorstellungsrunden neben dem Alkohol immer als ebenfalls konsumiertes Suchtmittel angegeben werden. Ein Raucher-Entwöhnungskurs konnte parallel besucht werden. Für den Karten gestützten Vortrag über ihr Leben hat jede Frau 30 Minuten Zeit.
Selbstverständlich war die wirkliche Arbeit an sich selbst oft über Tage vorher geleistet worden, wenn jede sich mit dem Verlauf ihres bisherigen Lebens und ihrer Suchterkrankung auseinandersetzte.
In meiner Gruppe herrschte durchgängig gegenseitiger Respekt, der besonders zum Tragen kam, wenn eine Frau ihre Bilanz erzählte. Die „Bilanz“ ist auch Voraussetzung für die Erlaubnis zu Heimfahrten am Wochenende. Auch die Aufforderung zu „Ich“-Botschaften wurde fast durchgängig beherzigt, ebenso wie das Schweigegebot für Inhalte, die in der Gruppe mitgeteilt wurden.
Einschub: Übrigens fällt mir hier im Forum nachträglich auf, dass manche (sehr wenige) Foristen viel auf der Ebene von „Du bist … so und so.,…“ , „Du solltest mal…“ oder noch destruktiver, an andere gerichtet „sie ist … so und so…“ be- und abwerten und damit fundamentale Kommunikationsregeln, die einen konstruktiven Austausch im Rahmen einer virtuellen Selbsthilfegruppe ermöglichen, unterminieren. Grufti hat in einem Posting von, so meine ich mich erinnern zu können, Januar 2016 das Forum mit einer Schale verglichen: Jeder, der möchte, kann dort seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse hineinlegen – und jeder kann schauen, ob in der Schale etwas dabei ist, was für ihn hilfreich sein kann. Und so ist es hier ja auch erfreulicherweise überwiegend. Einschub Ende.
Aufgrund des therapeutischen Anspruchs der Klinik wird viel Wert auf die Beschreibung und Analyse der Kindheit gelegt. Hier werden wesentliche Faktoren zur Begründung einer späteren Sucht gesehen.
Für mich war, da ich das erste Mal im Leben therapeutische Unterstützung in Anspruch nahm, alles neu. Und, wie ich mir zuvor schon vorgenommen hatte, habe ich alles offen angenommen, erst mal gar nicht groß hinterfragt, sondern Tagesablauf, die Stunden in der Ergotherapie, die sporttherapeutischen Angebote, die Gruppen- und die Einzeltherapien, die Freizeitgestaltung, hach ja und die tiergestützte Therapie (mit Pferden, Lamas, Alpakas und Ziegen) neugierig und grundsätzlich bejahend absolviert. Schön an der Klinik ist auch, dass es im großen Eingangsbereich eine Art Lobby gibt, mit drei bis vier Sitzgruppen für jeweils bis zu zehn Frauen, wo man sich immer ganz locker hinsetzen kann, um mit anderen in Kontakt zu kommen, einfach mal so zu „schwätze“ und um auch mal mit Frauen aus anderen Gruppen zu reden.
Eine extrem wichtige Überlegung für mein weiteres Leben hat mir mein kluger Therapeut mit auf den Weg gegeben: Wenn es mir gelingt, mich vom Alkohol so radikal und grundsätzlich und nachhaltig zu trennen wie 2001 vom Rauchen, möge ich daran denken, dass ich beim Tod meines Mannes 2015 ja mitnichten wieder zur Zigarette gegriffen hätte. Dabei läge das ja an sich nahe - auf ein früheres Suchtmittel zurückzugreifen. Deshalb, so sein Impuls, falls ich in diesem Leben nochmals in eine traumatische Situation und schwere Lebenskrise geraten sollte, könnte auch etwas völlig anderes den Suchtmechanismus wieder befeuern. Es könne also sein, dass ich mitnichten wieder auf Alkohol zurückgriffe, sondern dass etwas Anderes und aktuell völlig Ungefährliches und Unverfängliches (so, wie ich ja auch zunächst relativ lange und viele Jahre gesellschaftlich eingebunden un-missbräuchlich und un-abhängig Alkohol habe trinken können) das neue Suchtmittel werden könne: Essen, Nichtessen, Arbeit, Sport, Internet, Medikamente – Alles Mögliche. Sachen, von denen ich mir aktuell überhaupt nicht vorstellen kann, dass sie zum neuen Suchtmittel in einer neuerlichen Krise jemals mutieren könnten. Ich werde diesen Gedankengang im Auge behalten - und wie.
Am Ende der acht Wochen hatte ich das eineindeutige Gefühl: Das war es, unumkehrbar, mit dem Alkohol. Aus. Schluss. Vorbei. Dieses Gefühl hat die Rückfahrt aus dem Biotop zu mir nach Hause völlig unbeschadet überstanden und trägt mich seitdem durch jeden Tag.
Heute nun war ein Tag, an dem ich meine neue Sicherheit im realen Leben habe auf den Prüfstand stellen müssen. Letztes Jahr hatte ich mich wegen schmerzender Knie in ärztliche Behandlung gegeben. Abgesehen von den Knien stellte der Arzt (Internist und Rheumatologe) unerklärlich hohe Entzündungswerte fest, die eine andere Ursache haben müssten. Die Suche begann. Alle bislang untersuchten Organe: Tiptop, eins nach dem anderen. Bis ich dann am 3. Januar diesen Jahres über lang anhaltenden unangenehmen Husten klagte und der Arzt mich umgehend am selben Tag zum Röntgen der Lunge überwies. Ich hatte ihm zwei Mal eingeschärft, dass ich am 18.1.18 für zwei Monate in der Reha sei und er hat zugesagt, wenn an der Röntgenaufnahme etwas Auffälliges sei, mich umgehend informieren zu lassen. Zugriff auf die Röntgenbilder hatte er bereits spätestens am 4.1.18, Da nichts kam, war ich beruhigt und fuhr los. Heute Morgen nun habe ich ihm erzählt, dass ich in der Klinik ab der 7. Woche eine schwere Bronchitis mit 39,5 Grad Fieber gehabt habe und mit einem Antibiotikum behandelt worden bin. Husten müsse ich jedoch immer noch, nur jetzt ganz anders. Aber es sei ja gut zu wissen, dass das Röntgen der Lunge vom 3. Januar keinen Befund ergeben habe.
Der Arzt wirkte irritiert, konnte mit dem Termin nichts anfangen, loggte sich dann aber auf die Plattform ein, die ihm den Zugriff auf die Röntgenergebnisse seiner Patienten erlaubt und fragte mich, ob ich eventuell ein Stück Metall in der Brust habe. Ich verneinte. Er ist nun sichtlich unruhig, dreht den Monitor in meine Richtung und wir sehen auf meinem linken Lungenflügel einen etwa apfelsinengroßen dunklen Schatten. Der dort bereits am 4. Januar zu erkennen gewesen wäre, wenn der Arzt denn mal nachgeschaut hätte.
Er hat mich also jetzt über drei Monate weiter damit herum laufen lassen. Ich kann es nicht fassen.
Dann ging es zur Blutabnahme und obwohl ich so tolle Venen habe, bei der jede Arzthelferin jubelt, weil sie einem fast schon entgegenspringen, schaffte es die neue Sprechstundenhilfe, mir die Nadel in den Arm zu rammen, ohne dass auch nur ein Tropfen Blut in die Kanüle floss. Ich habe meinem Erstaunen Ausdruck gegeben, sie hat sofort ihre ältere Kollegin geholt, die dann 1a-mäßig und ohne Schwierigkeiten das Blut entnommen hat. Danach wollte ich die Praxis nur noch so schnell wie möglich verlassen. Draußen fiel mir ein, dass ich die Terminbescheinigung für den Arbeitgeber in den Wirren vergessen hatte und ich bin wieder in die Praxis hinein.
Da höre ich bereits im Eingangsbereich, wie die Sprechstundenhilfe, die das mit der Vene nicht gepackt hat, durch den gesamten Empfangsbereich der Praxis tönt: „Und die hat ja auch schweren Alkohol-Abusus. Also, der nehme ich sowieso kein Blut mehr ab“. Und das in einem Ton, als ob ich gerade stockbesoffen in der Praxis randaliert hätte. Ich kam mir vor, wie in einem Alptraum mit Fortsetzung.
Donnerstag am Nachmittag habe ich den Termin zum Thorax-CT. Ich habe Angst. Ich trinke nicht. Nicht heute, nicht morgen, nicht am Donnerstag. Egal was kommt.
Susanne
----------------------------------------- Optimismus ist, bei Gewitter auf dem höchsten Berg in einer Kupferrüstung zu stehen und »Scheiß Götter!« zu rufen. (Terry Pratchett)
ich schreibe nur ganz kurz, weil mir selbst zur Zeit nicht so der Sinn nach langen Texten hier im Forum steht (keine Angst, hat nix mit Alkohol zu tun):
Ganz herzlichen Dank für die ausführliche Schilderung deines Klinikaufenthaltes! Ich finde es immer sehr hilfreich, wenn jemand in einem positiven "Grundton" seine Erfahrungen beschreibt und nicht hauptsächlich das herausstreicht, was nicht gepasst hat (was es aber sicherlich fast immer gibt).
Das mit dem Schatten auf der Lunge und die Umstände drumherum tut mir wirklich leid für dich. Es bleibt im Moment wohl wirklich nur das Motto, durchhalten bis Donnerstag und nicht die Nerven verlieren. Und natürlich nicht trinken. Aber da bin ich bei dir sehr zuversichtlich.
Ich drücke dir ganz fest die Daumen, dass die Sache ein gutes Ende nimmt.
Liebe Grüße vom Grufti! Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden (Mark Twain)
Dein Posting habe ich bereits gestern Abend gelesen. Es ist sehr in mir angeklungen und es wirkt sehr nach. Oft habe ich an dich gedacht und daran, wie es dir wohl geht und erging. Du hattest ja geschrieben, dass du zu gegebener Zeit berichten wirst, wenn es für dich stimmt. Es fällt mir ein wenig schwer, die richtigen Worte zu formulieren, daher möchte ich dir einfach kurz danken für deine "Bilanz" seit April 2017 und dein Resümee deiner Zeit auf dem Höchsten. Ich habe den Eindruck, du hast jedes Wort sorgfältig abgewägt. Es liest sich so aufgeräumt, reflektiert und wertschätzend. Allem gegenüber: dir, den Therapeuten, der Einrichtung, dem Kostenträger, ...Ich freue mich sehr, dass du den dringend benötigten Dreiklang – Zeit, Raum, Ruhe – so wunderbar hast nutzen können. Deinen Bericht sehe ich als grosses Geschenk. Vielen Dank fürs Teilhaben lassen.
Deine Schilderungen betreffend Arzt, Blutabnahme, fachlicher und persönlicher Umgang und Sorgfalt in der Arztpraxis hinterlassen viele Fragezeichen. Wie konnte es passieren, dass der Arzt das Röntgenbild nicht anschaute? Warum tritt die Arzthelferin nach verpatzter Blutentnahme nach? Warum darf in dieser Praxis so abfällig und laut über Patienten im Eingangsbereich rumposaunt werden? Welche Werte werden in dieser Praxis überhaupt gelebt? Ich könnte mir vorstellen, dass dich diese Fragen allenfalls auch umtreiben. Ich wünsche dir, dass du darauf bald befriedigende Antworten erhältst. Aus meiner Sicht ist es wichtig, so dass es kein Albtraum bleibt.
Vor einem Jahr stand ich bei der Frauenärztin. Das bildgebende Verfahren zeigte, dass da was gar nicht gut ist. Vier Monate und ein paar OPs später war es dann wieder gut. Dazwischen war es hart. Mir hat es sehr geholfen, in Schritten zu Denken. Wenn die Gefühle und Ängste mich überholt haben, habe ich mich gezwungen, einfach den nächsten Schritt, das nächste Ergebnis abzuwarten und dann zu schauen. Keine Generalpanik aufkommen lassen. Step by step.
Alles Liebe und einen guten Tag. Ich halte dir für morgen ganz feste die Daumen.
vielen Dank für deine eindrückliche Beschreibung deiner Höchsten-Zeit, habe mich zurückversetzt gefühlt in meine Zeit von vor 10 Jahren dort!
Ich drücke dir fest die Daumen für deinen nächsten Arztbesuch, und ja, life is a bitch, manchmal eben....und das Leben per se Aushalten mit all seinen Facetten inklusive Emtotionen ist bis heute für mich eine Aufgabe.